|
<<
Siebenschlaf
Siebenschläfer - 1. nach der Legende 7 Brüder in Ephesos, die während einer Christenverfolgung unter Decius (251 n. Ch.) in eine Höhle flohen, dort eingemauert wurden und 446 wieder zum Leben erwachten, um Zeugnis für die Auferstehung der Toten zu geben; 2. größte einheimische Schlafmaus, gehört zu Familie der Bilche, Winterschlaf in Baum- und Erdlöchern dauert 7 Monate, lichtscheu, gibt Kreisch-, Pfeif-, Quietschlaute von sich.
Das Stück kombiniert elektronisch bearbeitete Saxophonklänge, die auf sieben Mehrklängen basieren, mit verschiedenen Typen von Rauschen: Rauschen als Nebengeräusch des Saxophontons (bei manchen Mehrklängen notwendiger Bestandteil des Klangs); durch Griffe gefärbtes Rauschen durch das Instrumentenrohr; Rauschen durch Mikrophonierung; künstliches Rauschen (Radio und Rauschgenerator). Die wattierte eingelullte Klanglichkeit des Rauschens wird mit extrem tiefen Tönen und Geräuschen kombiniert.
Mich interessierte vor allem ein physisch konkretes Hörerlebnis. Die tiefen Bässe können als angenehm empfunden werden, assoziieren aber auch Bedrohliches. Was normalerweise unerwünscht ist - Rauschen, zu tiefe Bässe, Mitvibrieren der Lautsprecher, Nebengeräusche bei der Klangproduktion des Blasinstruments wurde einbezogen. Durch die Verstärkung des Saxophons über mehrere Mikrophone bei einer Live-Aufführung soll das Gefühl unterstrichen werden, sich als Hörende/r ganz nahe am physischen Ursprung des Klangs zu befinden.
> Audio Siebenschlaf (Ausschnitt) 2:31
Der Tagesspiegel, 18. 11. 2000
von Volker Straebel
Ulrich Krieger in den Sophiensälen
Einen besseren Beginn hätten die Freunde Guter Musik für ihre dreiteilige
Reihe "Das Sax so von der Seite gesehen" in den Sophiensälen nicht finden
können. Mit dem Berliner Komponisten und Instrumentalisten Ulrich Krieger
führte eine feste Größe der internationalen Avantgarde-Saxophonie in das
Thema ein und wies den Weg in komplexe, elektronisch modifizierte
Klangwelten jenseits der Klischees von Jazz- und Bar-Musik.
Dafür dominierten andere Klischees, die der strukturell einfachen
Verdichtung durch live-elektronisch überlagerte Sampling-Schleifen zum
Beispiel. Kriegers eigenes "Speed it Up!" beginnt als Persiflage auf
ubiquitäres Minimal-Gedudel mit in Zirkular-Atmung rasend schnell
gebrochenen Akkorden, die sich mit kontrapunktischen Einzeltönen zu in den
Höhen flirrenden Klangflächen zusammenschieben. Ein dreigliedriger
Mittelteil unternimmt ähnliche Steigerungen ausgehend von ruhigeren
Instrumentalklängen bis in der Reprise der Beginn nun auch in elektronischer
Raumverteilung physische Präsenz erlangt. "Poopy" von Reinhold Friedl
bedient sich in klar gerichteter Struktur ähnlicher Verfahren. Hier werden
einfache, von Krieger bewusst gesetzte Saxophon-Signale in sich zunehmend
überlagernde Schleifen überführt. Dabei überzeugt die Parallele zwischen den
auf einem Atem gespielten crescendierenden Liegetönen und des langsameren
aber ebenso unausweichlichen Anschwellens des Gesamtklanges.
Die Uraufführung des Abends, "Siebenschläfer" von Kirsten Reese, fügt zu
Tenor-Saxophon und - von Krieger übrigens souverän beherrschter -
Live-Elektronik ein am TU-Studio produziertes Zuspielband hinzu. Die tiefen
Schwebungsklänge des Beginns, die bald von verstärktem Instrumental-Rauschen
kontrapunktiert werden, sind nicht etwa rein elektronischer Natur, sondern wurden von Reese
den ungewöhnlich weichen Multiphon-Klängen des Saxophons abgelauscht.
Im weiterhin dunkel tastenden Gestus vollzieht sich eine
langsame Annäherung beider Klangebenen, deren detailliert auskomponierten
Eigenstrukturen bald wie unter dem Mikroskop der Elektronik erscheinen.
Repetitionen kleingliedrigen Schmatzens und geschickt die Tonbandmusik der
60er Jahre zitierende Wisch- und Rauschverläufe zeugen ebenfalls von Reeses
Sensibilität für Klangstrukturen von räumlicher Präsenz, die Fragen nach
formalen Zusammenhängen bald vergessen lassen.
Berliner Morgenpost 18.11.00
von Matthias R. Entreß
Das Saxofon, von innen, in Stücken und unter Strom
Avantgardefestival "Das Sax so von der Seite gesehen" in den
Sophiensælen
Das Saxofon ist in aller Munde. Nach dem eher klassisch
orientierten Saxofonkongress vor einem Monat zeigen die
"Freunde der Guten Musik" in den Sophiensælen nun das "Sax
so von der Seite gesehen". Als Partner oder Gegner der
Elektronik, stets aber unter der akustischen Lupe des
Mikrofons, das sein Innerstes nach außen wendete. Der
Donnerstagabend war dem Berliner Saxofon- und
Elektronik-Experimentator Ulrich Krieger gewidmet, der seine
höheren Weihen des erweiterten Musikbegriffs noch von John
Cage persönlich empfangen hatte. Wieder einmal aber erwies
sich Komposition in seinen eigenen Stücken sowie in Reinhold
Friedls "Poopy" als massive Ausnutzung technischer
Voraussetzungen, jedoch kaum mehr als effektvolle Spielerei.
Eine echte kompositorische Leistung, bei der Krieger seinem
Rang als Interpret gerecht werden konnte, war
"Siebenschläfer" der 32jährigen Kirsten Reese. Der Titel
verweist gleichermaßen auf eine Legende aus der Zeit der
Christenverfolgung wie auf die Schlafmaus dieses Namens -
das mikrofonierte Innere des Tenor-Saxofons mit seinen
Rausch- und Pfeifklängen zeichnete die Höhle als Ort ewigen
und unheimlichen Überdauerns nach.
Der zweite Abend mit bis zu vier Spielern "handelte" von
Schwebungen und Harmonien, auch diese leider nicht ohne
elektrische Verstärkung. Während Werner Durands "Left
Hemisphere" eine schöne Folge von Klangraum-Variationen
durch sachtes Ein- und Ausschwingen einzelner Töne
gestaltete, harmonisierte die in Berlin lebende Kanadierin
Chiyoko Szlavnics in "Partial Response" die Interferenzen
zweier Saxofon-Oberteile und der Stimme von Ute Wassermann.
Schwebungen, also Töne, die sich aus Perioden von
Auslöschung und Verstärkung ergeben, "hört" nur das Ohr, sie
sind eigentlich imaginär - was auch den Zauber dieser
einfachen Komposition ausmachte.
Doch woher alles kam, das zeigte das über 20 Jahre alte
"Saxony" von James Tenney, geb.1934, dem amerikanischen
Pionier des Dialogs von Elektronik und Instrument. Digitale
Delays von einer Minute Dauer sammelten nach und nach die
Obertonreihen der vier Saxofone auf und summierten sie zu
einem golden jubelnden Engels-Chor. Vor solch purer
Schönheit scheinen Tenneys Nachfahren, wie das Programm
zeigte, vielleicht aus Angst vor Plagiatvorwürfen,
zurückzuschrecken.
Am heutigen Sonntag schließt die Saxofonreihe mit einem
Virtuosen ganz anderen Temperaments: David Mott erzeugt im
mächtigen Hohlraum des Baritonsaxofons elektronische Effekte
und Mehrstimmigkeit ganz ohne Computer und Synthesizer. Aus
den Resonanzen rasender Läufe wachsen monumentale
Klangskulpturen. Artistik und Avantgarde, bei David Mott
kein Gegensatz.
|
|