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Vor dem Tag
(Kollektivkomposition mit Lukas Berchtold, Helmut Lemke, Urban Mäder, Daniel Ott und Enrico Stolzenburg)

für eine Landschaft, Schauspieler und Sänger/Sprecher, Lautsprecher und Lautsprecher-Akteure, Lichtquellen und Lichtspieler, Windspiele und Windspieler, Schwirrhölzer und Geisslechlöpfer, Treichler und Fahrräder, Alphörner und Akkordeons, Bassklarinetten und Baritonsaxophone, Trompeten und Posaunen.

13./14.8.2010 Festival Rümlingen

Thomas Meyer, Schweizer Musikzeitung
Durchs Dunkel in den Tag hinein
Das Festival Rümlingen führte einmal mehr in einer nächtlichen Klangwanderung durch die Juralandschaft. «Vor dem Tag» hiess die Komposition, an der sechs Künstler und Künstlerinnenbeteiligt waren.

Da tagte es. In der Dämmerung wurden auf der abschüssigen Wiese, noch undeutlich zunächst, Menschen sichtbar, die Blick und Ohr zur sanften Talsenke hinunter wandten. Dort, in einer Artweitem natürlichem Amphitheater aus Wäldern und Böschungen erklangen Musiken: Schlaghölzer, Blasmusiken, später Alphörner, Treicheln, ein Chor, Geisslechlöpfer. Und wenn sichauch nichts regte, so schien sich doch der Wald zu bewegen. Das Leben erwachte wieder mit der Helligkeit über der Schafmatt und mit ihm menschliche, menschengemachte Musik.
Das war der musikalische Schlusspunkt des diesjährigen Festivals von Rümlingen. Es folgte nochein Frühstück mit Kaffee, Zopf und hausgemachter Kofitüre auf einer Weide (um das Leibliche ist man hier von je her speziell besorgt). In aller Frühe waren die Besucherinnen und Besucher glücklich am Ende einer langen Nachtwanderung angelangt. Solche Ereignisse haben hier einegewisse Tradition. Den Kontakt mit der Umgebung hat dieses 1990 gegründete Festival von Anbeginn gesucht. Bald begab man sich in die Natur. Unvergesslich bleibt zum Beispiel jene nächtliche Wanderung Stromaufwärts von 2003, wo man erstmals ins Dunkel einer Sommernachthineinging und dabei an verschiedensten, oft kaum lokalisierbaren Klangereignissen vorbeikam.Unvergesslich bleibt selbst jene aus fünfzig Übersee-Containern errichtete Wagenburg auf einem Jurahügel, die 2005 im strömenden Regen unterging und sich doch als imposantes Gebildeeinprägte. Diesmal ging es – in der Nacht von Freitag, dem 13. (!), auf Samstag, den 14. August –hinauf auf die Schafmatt oberhalb des Dorfes Oltingen, auf jenen abgelegenen Jurapass, «der das Aargau vom Baslergebiet trennt», wie es in einer Sammlung von Schweizersagen heisst. Der Wettergott zeigte sich gnädig. Der Boden war trocken, die Luft nicht allzu kühl, die Nacht fastklar. Nur einige Wolken durchzogen den Sternenhimmel.

In die Landschaft – nach innen
So eine Klangwanderung im Dunkeln bedarf natürlich einiger Vorkehrungen. So wurde man im Bus, der einen am Bahnhof Gelterkinden abholte, zunächst auf Regeln hingewiesen: Immer linksder orangeroten Leuchten entlanggehen! Nicht vom Weg abweichen, auch wenn man sich auskennt! Nicht sprechen! Sich Zeit lassen und verweilen! Blaue Lichter führen zu einer Toilette,grüne zum Notausgang. Strohballen laden zum Ausruhen ein. Der Reiseleiter informierte aberauch über die Schafmatt und den Ort Oltingen, erzählte aus alten, teilweise etwas gruseligen Sagen, hatte seltsame theatralische Ausbrüche und Gefühlsaufwallungen und formte so unsere Wahrnehmung für das Ereignis vor. Wie wichtig das war, zeigte sich schon nach wenigen Schritten. Eine junge Frau in Tracht empfing die aus dem Bus Gestiegenen, sprach kaumverständliche Worte und entliess uns dann in kleinen Gruppen auf einen finsteren, struppigen,ansteigenden Waldweg. Bald vernahm man aus dem Dickicht Klänge und Geräusche, Stöhnen,Raunen, Worte, alles sehr leise und fein, aber dennoch eindringlich, denn unvermittelt verbandman es mit den Sagen, glaubte sich Geistern nahe, bäuerlichen Untoten, Verwunschenen. Weiter oben auf der Lichtung harrten weitere dunkle Gestalten. Kein Horror, eher schmerzliche Ahnungen von Geschehenem kamen da auf. So verband sich das Erleben mit dem Gehörten ausdem Bus. Der Weg in die Landschaft hinaus führte auch ins Innere. Später auf einer Wiese, auf der Quellgeräusche zu hören waren, kam einem der alte Volksglauben in den Sinn, unter den Halden der Schafmatt, wo zwei Quellen entspringen, befände sich ein grosses Gewässer, das mit Gewalt loszubrechen drohe, weswegen die zahlreichen Wallfahrer aus dem nahen Elsass auf ihrem Weg zur Schwarzen Madonna von Einsiedeln früher an dieser Stelleauf die Knie fielen und beteten, Gott möge die Welt nicht mit einer neuerlichen Sinflut verwüsten. Man sah zwar kaum etwas, aber das Geräusch des ßiessenden Wassers liess einen glauben, derganze Abhang sei übeflutet. In dieser Weise handelte es sich bei der Rümlinger Festivalausgabe 2010 nicht nur um eine musikalische oder akustische Performance. Hier verbanden sich Landschaft, Klang, Geräusch, Dunkel, Sagen, ja Hörensagen mit der eigenen Imagination.

Kunstbezogen? Existenziell!
Das ist die Besonderheit, die Rümlingen über die meisten anderen Festivals hinaushebt. Obwohles sich im Internet als www.neue-musik-rümlingen.ch zu erkennen gibt, steht es doch fernab derMechanismen des Neue-Musik-Betriebs mit seinen Uraufführungen und Karrieren. Viel eher führtes eine Tradition weiter, die wir von John Cage und der sogenannten New York School, von der Fluxus-Bewegung mit ihren Happenings, von den 68er-Aktionen und der politischen Musik her kennen, nur ist der Grundgestus existenzieller und weniger kunstbezogen. Schluss ist hier auch miteinigen Dogmen der Avantgarde. Das Bilderverbot, das sich in einigen Köpfen immer noch hält,wird durchbrochen. Die innere Vorstellungskraft kommt wieder zu ihrem Recht. So wie frühere Generationen die Landschaft mit archaischen Kräften und Gestalten bevölkerten, tut es nun der Rümlinger Hörer. Das befreit. Einbezogen in dieses Spiel wurden übrigens auch die Kühe und ihre Glocken, die Grillen und die Strommasten. Insofern war dieses Festival auch ein eigenwilliger Beitrag zur «Neuen Schweizer Volksmusik» oder, wie es Pro Helvetia formuliert, zur «Volkskultur für morgen». Wichtig dabei, dass wieder ein einheimisches Ensemble mitwirkte, die Chorgruppe Oltingen-Zeglingen-Rünenberg.

Der feine Jubel des Tagesanbruchs
Nebensächlich war die musikalische Innovation, nebensächlich auch der Werkcharakter (beides kommt in anderen Rümlinger Jahrgängen durchaus zum Zug). Vor dem Tag war eine fünfteilige «Kollektivkomposition für eine Landschaft, Schauspieler und Sänger/Sprecher, Lautsprecher undLautsprecher-Akteure, Lichtquellen und Lichtspieler, Windspiele und Windspieler, Schwirrhölzerund Geisslechlöpfer, Treichler und Fahrräder, Alphörner und Akkordeons, Bassklarinetten undBaritonsaxofone, Trompeten und Posaunen». Gemeinsam geschaffen hatten sie der Festivalgründer Daniel Ott, der Luzerner Komponist Urban Mäder, die deutsche Komponistin und Klangkünstlerin Kirsten Reese, der Berliner Regisseur Enrico Stolzenburg, der Klangkünstler Helmut Lemke sowie der Bildhauer und «Installateur» Lukas Berchtold. Die individuellen Beiträge waren allenfalls zu erahnen, wenn man die Künstler kennt; sie gingen in einem Gesamteindruck auf. Von der Busfahrt bis hin zur Tagwacht spannte sich so ein weiter dramaturgischer Bogen. Über drei Stunden lang (auf einer Wanderung, die normalerweise höchstens eine Stunde dauern würde) ging man durch die Nacht, blieb stehen, hörte und horchte, versuchte das kaum Kenntliche zuerkennen (Singt da einer? Oder ist das ein Lautsprecher?), entwickelte innere Bilder und ging weiter. Die Zeit, die Stille, die Lockerheit schrieben die Ereignisse im Gedächtnis ein. Und gleichzeitig wurden die dunklen, aus der Enge geborenen Impressionen des Beginns in der hellen Weite des Morgens erlöst. Erst nach solch durchwanderten Nächten wird einem klar, was für ein feiner Jubel in einem Tagesanbruch aufklingt!

Dies ist keine Rezension, sondern eher ein Nachdenken über ein ßüchtiges und dennoch (oder gerade deshalb) ungemein faszinierendes musikalisches Ereignis. Der Autor weist gern daraufhin, dass er im kommenden Jahr in die Realisation des Festivals involviert ist.